Ich bin das Licht der Welt (Joh 8,12). Dieses Wort des Herrn könnte über dem Bild von Marion Haas stehen.
Zunächst soll eine Beschreibung des Bildes gemacht werden: Das Ölbild lässt sich in drei Teile gliedern: eine linke und eine rechte Hälfte und ein dritter Teil über dem Ganzen. Schauen wir uns zunächst die rechte Hälfte an: Der untere Teil der rechten Seite besteht aus Grüntönen: Ganz rechts sehen wir ein ganz dunkles Grün, links ein helleres. In diesem helleren Grün gibt es einige gelbe und weiße Tupfer.
Im linken Teil des Bildes erkennt man eine Fläche, die aus vielen Blautönen besteht. Der größte Teil ist dunkelblau, aber an einigen Stellen ist es etwas heller und es gibt sogar einige weiße Flecken. Mitten durch dieses Blau geht ein heller Streifen aus Weiß und einem hellen Blau.
Der obere Bereich des Bildes lässt sich nochmals, in zwei Teile gliedern, die ineinander übergehen: Rechts oben sehen wir verschiedene Blautöne, die ineinander verwoben sind: Überwiegend ist dieser Teil tief dunkelblau, aber immer wieder gibt es auch ein helleres Blau und einige weiße Flecken. Links oben sehen wir sehr viel Weiß, das sich an einigen Stellen mit einem hellen Blau vermischt. Hier sehen wir außerdem einen Kreis aus einem kräftigen Gelb und Orange. Einige Stellen in diesem Kreis sind weiß. Der Kreis befindet sich genau über dem Ende des hellen Streifens, der den unteren blauen Teil des Bildes durchtrennt.
In den einzelnen Bildbereichen verschwimmen die Farben miteinander, doch die Teile als solche sind klar voneinander abgegrenzt.
Jesus Christus spricht: Ich bin das Licht der Welt (Joh 8,12).
In dem Bild von Marion Haas kann man den gelb-orangefarbenen Kreis als Symbol für das Licht der Welt, also für Jesus Christus verstehen. Der Kreis aus warmen Farbtönen ähnelt einer Sonne, deren Strahlen alles Übrige erhellen. Die Sonne, Christus, ist außerdem die Kraft, die das Leben schafft. Sie ermöglicht Leben im Meer, dem blauen Bereich des unteren Teils, und an Land, dem grünen Bereich des unteren Teils. Sie steht am Himmel, der oberen Hälfte des Bildes. Ihre Strahlen reichen überall hin — auch dort, wo man meint, es sei dunkel. Doch ohne das Licht wäre die Dunkelheit gar nicht sichtbar. So ist Christus also auch dort, wo wir ihn nicht vermuten, wo wir uns verlassen fühlen. Er selbst sagt: Wer mir nachfolgt, wird nicht in Dunkelheit leben, sondern wird das Licht des ewigen Lebens haben (John 8,12). Was sind diese Dunkelheiten, die wir doch so oft spüren? Sind es die Nöte unseres Lebens, unser Kummer, unser Schmerz, unser Versagen? Oder sind es die inneren Ängste, die unreinen Gedanken des Herzens, Gefühle wie Wut, Verzweiflung, Neid, Stolz? Was immer es ist: Der Herr ist da, um auch diese tiefdunkle Seite unseres Lebens zu beleuchten. Und wie man auf dem Bild sehen kann, geht auch aus dem Dunkel neues Leben hervor — das hellere Grün, in dem sich gelbe Lichttupfer befinden, steht für die Fruchtbarkeit. Neues Leben entsteht — es entsteht, weil der Herr sein Licht und sein Heil bringt. Die Anwesenheit Christi auch in den Schattenstunden unseres Lebens wird außerdem durch die rechte obere Hälfte des Bildes verdeutlicht: Tief verhangen ist der Himmel — doch das dunkle Blau wird durch hellere Flecken bis ins Weiß unterbrochen. Gott ist da — wir müssen ihn nur wirken lassen, uns von ihm erhellen lassen. So können wir vertrauensvoll mit dem Psalmisten wir beten: Der Herr ist mein Licht und mein Heil, vor wem sollte ich mich fürchten? (Ps 27,1).
Durch die klare Trennung der Grün- und Blautöne im unteren Bereich des Bildes wirkt der linke Teil des Bildes wie ein Meer, der rechte wie ein Stück Land. Auch in diesem Meer überwiegen die dunklen Partien — sind es die Wogen des Lebens, die vielen Gefahren des Untergehens, von denen wir bedroht werden? Wir gehen immer dort unter, wo wir nicht mehr bei Gott sind, wo wir uns verlieren in den Strömen der Zeit, der Arbeit, der Angst, der Feindschaft, der Habsucht, der Traurigkeit, der falschen Freuden. Aber das Bild macht es deutlich: Mögen wir von Gott fern sein, er ist uns nahe — symbolisiert darin, dass sich selbst in den tiefblauen Stellen helle Punkte finden lassen. So können wir getrost beten: Er zog mich heraus aus gewaltigen Wassern. Er entriss mich meinen mächtigen Feinden (Ps 18, 17f). Mein Gott macht meine Finsternis hell. (Ps, 18,17 -18; 29).
Das dunkle Meer wird durch einen hellen Streifen in zwei Teile geteilt. Dadurch wirkt der Streifen wie ein Weg. Gedanken an den Durchzug durchs rote Meer kommen auf, dazu die Erinnerung an das Wandeln Jesu auf dem See. Eines ist offensichtlich: Es handelt sich nicht um irgendeinen Weg, sondern um den Weg des Lichtes. Jener Weg des Lichtes ist von zweierlei Seiten zu betrachten: Er geht zum einen vom Licht aus, zum anderen führt er zum Licht hin.
Betrachten wir zunächst einmal das Erstere: Der Weg geht vom Licht aus. Die Heilige Schrift beginnt mit der Schöpfungsgeschichte. Dort, unmittelbar zu Beginn der gesamten Heiligen Schrift, heißt es: Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde; die Erde aber war wüst und wirr. Finsternis lag über der Urflut, und Gottes Geist schwebte über dem Wasser. Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht. Gott sah, dass das Licht gut war (Gen 1, 1-4). Das Licht ist also das, was Gott als Erstes erschaffen hat. Ohne das Licht gäbe es kein Leben. Der Evangelist Johannes sagt im Prolog zu seinem Evangelium Ähnliches. Er geht vom Wort aus, das das Leben geschaffen hat. Dann folgt eine Gleichsetzung der beiden Begriffe Leben und Licht: Und das Leben war das Licht der Menschen (Joh 1, 4). Johannes schreibt weiter, dass das Licht in der Finsternis leuchte und die Finsternis das Licht nicht erfasst habe (Joh 1, 5). Welche Dunkelheiten, Gefahren, Ängste, eigene Bosheiten auch immer uns umgeben mögen — die Kraft des Lichtes ist stärker, sie trägt uns durch das Grauen der Finsternis hindurch. Demnach sagt der Evangelist: Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt (Joh 1,9). Wir — die Menschen — sehen das Licht also nicht nur, sondern sind von ihm erleuchtet. Es erfüllt uns von innen heraus und stärkt uns. Ganz besonders spüren wir dies an den beiden Höhepunkten des Kirchenjahres: Zu Weihnachten, wenn der Stern über Bethlehem aufleuchtet und Christus als Licht der Welt in der Dunkelheit der Nacht geboren wird. Und in der Osternacht, wenn es in die Verlassenheit des Todes und in die Dunkelheit der Nacht hinein heißt: Lumen Christi. Jesus Christus, unser Erlöser, erlischt nicht. Seine Zusage gilt: Ich bin das Licht der Welt.
Kehren wir nun zurück zu dem Bild von Marion Haas und schauen wir auf die zweite Richtung des Weges: Die Sonne, das Licht, ist nicht nur der Ausgangspunkt des Weges, sondern auch Anziehungspunkt. Der Weg führt zum Licht hin. Es ist auffällig, dass der Lichtkreis eher an den Rand des Bildes gezeichnet wurde — und doch richtet sich der Blick auf dieses strahlende Licht. Der Betrachter des Bildes geht sozusagen den erleuchteten Weg durch das Meer hin zum Licht. Das Licht zieht ihn an sich, sodass es zu eine Selbstverständlichkeit wird, der Aufforderung des Hl. Benedikts nachzukommen: Lauft, solange ihr das Licht des Lebens habt (RB, Prolog 13). Jenes Licht des Lebens ist gleichzeitig die Quelle unseres Lebens (Ps 36,10), Gott, von dem alles stammt — das Leben und das Licht. Jesus selbst drückt es folgendermaßen aus: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben (Joh 14, 6). Dass es sich bei diesem Weg wirklich um den wahren Weg des Lichtes und des Lebens, der Freiheit, des Heils und der Erlösung handelt, wird erkennbar, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie der Herr das Wort, das an den Anfang der Betrachtung gestellt wurde, fortführt. Er verspricht: Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis umhergehen, sondern wird das Licht des Lebens haben (Joh 8,12).